Du kannst wirken und etwas bewirken mit Talent, Engagement und Mut. Ein Aufruf von Verena Bentele
Verena Bentele ist 36 Jahre alt und hat mehrere Karrieren hingelegt: als 12-fache paralympische Goldmedaillengewinnerin, als Coach, Trainerin und gefragte Keynote-Speakerin, als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung sowie derzeit als Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes mit 1,9 Millionen Mitgliedern. Sie ist außerdem Autorin des Buches „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“. – Das alles blind. Verena realisiert ihre Träume ohne zu sehen.
Seit einigen Jahren arbeite ich in der Politik. Wollen sich Journalisten besonders findig zeigen, so fragen sie mich: „Was würden Sie tun, wenn Sie Königin von Deutschland wären?“ Es gibt mehrere Möglichkeiten, eine solche Frage zu beantworten. Die eine ist, sie abzutun mit den Worten: „Es gibt doch gar kein Königtum mehr.“ Das wäre aber schade, denn dann sieht niemand die Königin in dir, nicht einmal du selbst. Seien wir mal ehrlich: Hinter der Frage steckt ja eher, sich einmal zuzutrauen, groß zu denken und sich in eine Rolle mit enormer Wirkkraft hineinzuversetzen. Die Vorstellung erfordert einen starken Willen, denn wer Macht hat, muss etwas machen, muss Entscheidungen treffen und mutig Verantwortung übernehmen. Und schon sind wir bei der zweiten Antwortmöglichkeit: Sich ein solches Gedankenspiel zu erlauben und zu überlegen, wie es sich anfühlen würde, das Zepter tatsächlich in der Hand zu halten und etwas bewirken zu können. Wir Frauen tun das oft zu wenig. Bevor wir rufen „Ja, ich kann das“, denken wir darüber nach, wer es noch besser könnte, und bleiben lieber im Hintergrund. Dabei steckt In jeder Frau das Potenzial einer Königin mit besonderen Qualitäten, diese sind das Gold der Krone und all diese Begabungen werden dringend in unserer Gesellschaft gebraucht. Dieses Potenzial zu kennen und zu fördern ist elementar, um die Hindernisse, die es auf jedem Lebensweg gibt, zu überwinden.
Mein offensichtlichstes Hindernis ist nicht, dass ich eine Frau bin. Ich kann nichts sehen und renne buchstäblich täglich entweder gegen physische Hindernisse wie Baustellen, oder gegen mentale Barrieren, wie Menschen, die mich fragen ob ich mich allein anziehen kann. Die Realität ist: Viele Menschen trauen mir wenig zu, weil sie meinen Nachteil als stärker bewerten als meine Fähigkeiten. Da ich jedoch meine Potenziale sehr gut kenne und sie gezielt trainiere, habe ich mir den Gewinn der Goldmedaillen als Biathletin genauso zugetraut wie eine Karriere in der Politik. Wenn du deinen Weg kennst und dir dein Ziel vorstellen kannst, dann wird dich nichts und niemand zurückhalten.
Stell dir einmal Folgendes vor: Du stehst auf zwei schmalen Skiern, vor dir verläuft eine Spur, die du nicht siehst. Eine Stimme etwas weiter vorn sagt: „Wir sind oben am Berg. Kurve nach rechts, danach geht es in die Abfahrt… Hopp… Schieb richtig an und gib Gas… Hopp…“ Du spürst, wie deine Ski über den Schnee gleiten und leicht auf der vereisten Strecke vibrieren. Ein kalter Wind weht dir um die Nase, während du immer schneller wirst. Irgendwo vor dir hörst du: „Hopp… Hopp… Jetzt in die Hocke gehen und Gas geben… Hopp…“ Du rast geradeaus nach unten. Wie fühlst du dich bei dieser Vorstellung? Lässt du die Augen geschlossen? Kannst du diesen Ansagen vertrauen?
Als Blinde sehe ich nicht, was mich in der Abfahrt erwartet. Weil ich gewinnen will, habe ich mich nicht nur auf der Piste, sondern im Rennen des Alltags gegen das Bremsen und für das Vertrauen entschieden. Im Langlauf und im Biathlon leiht mir mein Begleitläufer seine Augen, seine präzisen Ansagen ermöglichen mir, in der Spur zu bleiben. Will ich den Sprung aufs Siegertreppchen schaffen, will ich mein Leben nach meiner Vorstellung gestalten, muss ich meine sicheren Raum verlassen und Risiken eingehen.
Trotz aller Vorbereitung und Umsicht kann ich nicht verhindern, dass mir immer wieder Hürden im Weg stehen, an denen ich mir eine blutige Nase hole. Was sich üben lässt, ist, nach einem Zusammenstoß den Mut nicht zu verlieren, sondern vertrauensvoll weiterzulaufen. Mittlerweile bin ich so etwas wie eine Expertin in Sachen „Blessuren“. Mein Motto: Pflaster draufkleben und weitermachen.
Um Karriere zu machen, musste ich immer wieder daran arbeiten, mein Handicap zu verbessern. Im Klartext heißt das: Ich akzeptiere, dass ich Unterstützung brauche und probiere Neues aus. Ich trainiere meine Talente und nutze meine Energie, um die Hindernisse zu überwinden.
Eine Schwäche oder ein Handicap ist keine unüberwindliche Hürde, sondern eine Art Trainingsgerät im Übungsparcours Leben, um deine Fähigkeiten und Stärken auszubauen. Die Belohnung: Das Vertrauen in dich selbst wächst, so dass du die nächsthöhere Hürde nehmen kannst.
Vor ein paar Wochen hatte ich einen unerfreulichen Zusammenstoß mit einem Stuhl. Ich beugte mich hektisch nach vorn und schlug dabei mit dem rechten Auge an die Lehne. Das blaupinke Veilchen trug nicht unbedingt dazu bei, mich hübscher zu fühlen. Aber weil ich unmittelbar nach diesem Missgeschick ein Interview zu geben hatte, blieb wenig Zeit für Selbstmitleid. Augen zu und durch bedeutete für mich in diesem Moment, ein Pflaster aufzukleben, ein wenig Schminke aufzulegen und mein schönstes Lächeln aufzusetzen. Denn in dem Interview spielte mein kleiner Schönheitsfehler keine Rolle, sondern es ging darum, was ich mit meiner politischen Arbeit bewirken kann.
Die Konzentration auf die eigenen Schwächen ist aus meiner Sicht ein größeres Handicap als blind zu sein. Natürlich ist es wichtig, über Schwächen zu sprechen, um sie einschätzen zu können. Aber damit es vorwärts geht, braucht es nun mal die Stärken. Zu diesem Vertrauen in die eigene Wirkkraft möchte ich Frauen ermutigen: Glaubt an die Königin in euch. Dann sitzt am Ende auch das Krönchen richtig.